Als „pränatal ausgewandert“ bezeichne ich mich gerne, wenn ich gefragt werde, woher denn meine Affinität zu Brasilien käme, und spiele darauf an, dass meine Vorfahren im Jahre 1936 von Lienz nach Brasilien ausgewandert waren, um dort in der Tiroler Kolonie Dreizehnlinden (Treze Tilias) das versprochene „Paradies“ zu finden.
Wenige Monate später war dieses Abenteuer einer traurigen Ernüchterung gewichen, endend in der Rückreise in die alte Heimat.
Die Erzählungen darüber haben mich stark beeinflusst.
Bald nach meinem Musikstudium ergab sich die Möglichkeit, als Mitglied eines Streichquartettes (mit dem in Curitiba aufgewachsenen Geiger Alessandro Borgomanero) im Rahmen einer Tournee Brasilien zu bereisen, Florianopolis war damals erstes beeindruckendes Ziel.
Von da an hatte ich das große Glück regelmäßiger Gastspiele in Brasilien mit dem Mozarteum Quartett ebenso wie mit dem Mozarteumorchester Salzburg.
Für das geschichtsträchtige Jahr 2000 konzipierte ich ein erstes Kammermusik-Projekt unter dem Titel Saudade, maßgeblich beeinflusst von Helene Lamesch, der damaligen Leiterin des österreichischen Kulturinstitutes in Paris.
Von ihr stammt mein erstes Wissen über Leopoldine von Österreich, und die Gewissheit, dass zu diesem Thema kein Weg an den Werken der Historikerin und Schriftstellerin Gloria Kaiser vorbeiführen darf.
Ein Jahrzehnt später wollte ich es „genauer wissen“, und begann mit Recherchearbeiten über zwei Persönlichkeiten, die hierzulande zu Unrecht wenig bis gar nicht bekannt sind, in Brasilien jedoch „Kultstatus“ oder zumindest adäquaten Bekanntheitsgrad genießen:
Sigismund Ritter von Neukomm als Komponist von mehr als zweitausend, davon etwa fünfzig in Brasilien entstandenen Werken, und eben Leopoldine von Österreich, der Landespatronin Brasiliens.
Die beiden verbinden vier gemeinsame Jahre am Kaiserhof in Rio de Janeiro.
Es mag nachvollziehbar sein, dass der von Salzburg ausstrahlende genius loci Wolfgang Amadé Mozart seine Kollegen in allem übertraf. Es bleibt aber zumindest verwunderlich, dass sein 22 Jahre später geborener Nachbar Sigismund Neukomm als in seiner Zeit hochgeschätzter Komponist, Organist, Dirigent und Wissenschaftler heute und hier in Österreich als vergessen zu bezeichnen ist.
Wie so oft, wenn man sich in Biografien und Zeitzeugenberichte von in Vergessenheit Geratenen vertieft, tritt eine Eigendynamik ein, man kommt nicht mehr davon los.
Mir widerfuhr dieses Phänomen bei Sigismund Neukomm. Ich wollte Genaueres erfahren über sein spannendes Leben, seine abenteuerlichen Reisen, was ihn trieb und wohin es ihn führte, wie man Hauspianist wird bei Charles Talleyrand, mit diesem am Wiener Kongress teilnimmt, plötzlich nach Brasilien aufbricht, immer in der Nähe politischer Entscheidungsträger…
Mit einem Text wie diesem konfrontierte ich im Herbst 2012 die Regisseurin und Kamerafrau Ulrike Halmschlager. Ihr spontanes „klingt sehr interessant“ bestärkte mich in meiner Idee, dieses Thema für einen Dokumentarfilm aufzubereiten. Es führte zu einer intensiven Zusammenarbeit über beinahe drei Jahre. Neben allen künstlerischen Qualitäten waren ihr bedingungsloser Einsatz für das Projekt, ihr unendlicher Idealismus in Verbindung mit ihrer beeindruckenden sozialen Kompetenz die wesentliche Basis für das Zustandekommen des Films, und eine große Bereicherung für mich.
Das Ergebnis ist Saudade – Rendezvous in Brasilien.
Herbert Lindsberger, im Mai 2015